Geschichten sind überall, wir begegnen ihnen jeden Tag, ohne dass es uns groß auffallen würde. Sie verbergen sich direkt vor unseren Augen: im Newsfeed, den wir durchscrollen, in den Nachrichten, die wir hören und den Gesprächen, die wir führen. Sie begegnen uns in unserer Vergangenheit und in den Gedanken, die wir uns über unsere Zukunft machen – Geschichten sind der Klebstoff, der unsere Welt zusammenhält. Wir können nicht ohne, denn das menschliche Gehirn ist komplett auf Geschichten gepolt.
In diesem Post erfährst du, was eine Geschichte braucht, um überhaupt zu einer zu werden, wieso in dir eine eigene Geschichte schlummert und wie du sie findest.
Storytelling oder die Macht von Geschichten
In meiner Filterblase taucht seit einigen Jahren der Begriff „Storytelling“ mit einer schon fast penetranten Häufigkeit auf. Storytelling ist die neue Marketing-Wunderwaffe, mit dem sich quasi alles verkaufen lässt – vom Staubsauger bis zur politischen Überzeugungen. Nur – neu ist die Sache mit den Geschichten nicht wirklich. Geschichten zu erzählen, ist so innovativ wie die Nutzung des Feuers. Und ungefähr genauso alt. Aber Storytelling funktioniert, wenn man es richtig macht. Und das seit Jahrtausenden.
Fakt ist: Wir Menschen lieben Geschichten. Wir können gar nicht anders, unser Gehirn funktioniert so. Es vernetzt Erfahrungen, Fakten und Fantasie zu einer Geschichte, die erzählt, was und warum etwas passiert ist.
Du kennst bestimmt diese Rätselbilder, bei denen man nummerierte Punkte mit Linien verbinden muss, damit ein Bild entsteht. Genau das macht unser Gehirn (nur ohne Stift). Es verbindet Erfahrungspunkte miteinander, damit wir ein Bild erkennen können. Und das passiert andauernd.
Geschichten sind so sehr mit unserem Leben und unserem Alltag verknüpft, dass wir gar nicht bewusst wahrnehmen, wo uns diese Form überall begegnet und wie häufig wir sie selbst anwenden.
- Wir vermitteln Informationen über Geschichten. Und die bleiben auch viel besser hängen, als eine lose Aneinanderreihung von Fakten. Das kennt man noch aus dem Geschichtsunterricht. Jahreszahlen sind öde (und schnell vergessen) – es sind die Anekdoten und anschaulichen Beispiele, die hängenbleiben.
- Wir geben auf diese Weise Erfahrungen und Empfehlungen weiter. Die Geschichten von Popeye, dessen Superkräfte von Spinat kommen, sind für jedes Kind deutlich anschaulicher als die reine Ermahnung: Iss deinen Spinat, der ist gesund.
- Wir teilen Werte und ein bestimmtes Verständnis von der Welt und vom Leben, wenn wir mit denselben Geschichten aufgewachsen sind. So entsteht Gemeinschaft.
- Und Geschichten schaffen Sinn. Sie erforschen das Warum und erzählen vom Wie.
Was ist eigentlich eine Geschichte?
Aber gehen wir noch einmal einen Schritt zurück zu einer sehr berechtigten Frage: Was ist eigentlich eine Geschichte?
Die meisten denken sofort an Bücher, Filme, Märchen, Erzählungen – Handlungen, die sich jemand ausgedacht und aufgeschrieben oder verfilmt hat.
Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Geschichten gibt es viel, viel häufiger. Und sind nicht unbedingt fiktiv, also reine Erfindung.
Weder die Länge noch die Frage nach Erfindung oder Wirklichkeit sagen etwas darüber aus, ob wir es mit einer Geschichte zu tun haben. Aber was dann?
Wenn wir ein Wörterbuch bemühen, ist eine Geschichte „die Wiedergabe einer Abfolge von Ereignissen.“
Aufregend, oder?
Meine Definition sieht so aus:
Eine Geschichte dreht sich immer um Veränderung. Sie erzählt, warum etwas passiert ist, verbindet Ereignisse miteinander und schafft einen übergreifenden Zusammenhang.
Ein Beispiel: Du triffst deine Nachbarin und siehst, dass sie den Arm in Gips hat. Oha!, denkst du dir. Da ist etwas anders als sonst, was ist passiert? Du erfährst, dass sie über einen Blumenkübel gestolpert ist und sich beim Fallen den Arm gebrochen hat.
Sie hat unser Mitgefühl, aber es ist ehrlich gesagt keine besonders spannende Geschichte. Dafür enthält sie alle wesentlichen Elemente: eine Veränderung, Ereignisse und die Erkenntnis, was wie und warum passiert ist.
Geschichten entstehen, wenn sich etwas verändert. Aber aus identischen Fakten machen zwei Menschen zwei komplett verschiedene Geschichten. Jeder verbindet die Ereignispunkte etwas anders, denn die sind im wirklichen Leben im Gegensatz zum Rätselheft nicht nummeriert.
Das heißt nicht, dass einer der beiden lügt. Wie wir unsere Erlebnisse zu einer Handlung mit Ursache und Wirkung verbinden, ist einfach eine sehr individuelle Sache und hängt von Erfahrungen ab und von unserer Sicht der Welt.
Jeder hat eine Geschichte
Wir erleben tagtäglich solche Mikrogeschichten. Die guten, überraschenden oder witzigen erzählen wir als Anekdoten weiter. „Neulich, als ich … ist mir etwas Verrücktes passiert …“
Diese kleinen Geschichten sind wertvoll, mal amüsant, mal nur mäßig spannend, aber sie fügen sich alle ein in die großen Erzählungen deines Lebens.
Wenn ich jemanden kennenlerne, finde ich es immer unglaublich spannend, herauszufinden, wie die Person geworden ist, wer sie ist. An welcher Stelle steht sie gerade in ihrer Geschichte? Fühlt sie sich, als wäre sie unterwegs oder ist sie irgendwo angekommen? Welche Ereignisse und Entscheidungen waren entscheidend für ihre Reise? Wie verbindet sie die „Punkte“ in ihrem Leben und welches Bild entsteht dabei? Wieso denkt sie über das Leben so, wie sie denkt?
Dahinter stecken immer Geschichten. Und jeder hat eine Geschichte.
Es lohnt sich, der eigenen Geschichte nachzugehen. Denn wenn man seine Geschichte(n) kennt, sieht man vieles klarer und kann häufig auch besser steuern, wo man eigentlich hinmöchte.
Du weißt gar nicht, wo du mit der Suche beginnen sollst?
Schau dir deinen Lebensweg an und halte nach diesen Hinweisen Ausschau:
- Starke Erinnerungen, die Emotionen hervorrufen. Dahinter verbergen sich oft Wendepunkte der eigenen Geschichten, Entscheidungen, die daraus resultieren oder Wege, für die man sich entschieden hat.
- Veränderungen. Vergleiche die Gegenwart mit einer Phase aus deiner Vergangenheit: Was ist heute anders? Und was hat zu dieser Veränderung geführt? Voilà, du bist einer Geschichte auf der Spur.
- Begeisterung und Leidenschaft für ein Thema. Du brennst förmlich für ein bestimmtes Thema, setzt dich dafür ein und kannst richtig energisch werden, wenn es darum geht? Es gibt garantiert eine Geschichte, die dich zu diesem Thema geführt hat. Und es lohnt sich sehr, die zu finden.
Wenn du deine Geschichte kennst und sie erzählst, tut dir das nicht nur selbst gut. Du baust damit eine Brücke zu anderen, die sich in deiner Geschichte wiederfinden können. Sie sehen jemanden, der einen Weg schon weiter gegangen ist und können erkennen, wohin er führt. Oder wie sich die scheinbar chaotisch angeordneten „Punkte“ ihres Lebens doch zu einem Bild zusammensetzen lassen.
Wenn wir Geschichten teilen, entsteht immer Gemeinschaft. Was ist deine Geschichte?